Ein Workcamp bringt viele erste Erfahrungen, nicht zuletzt ist oft die eigenständige Anreise zum Camp das erste Abenteuer, das es zu meistern gilt. Ricarda war für ihr Workcamp in Estland zum ersten Mal in ihrem Leben mit dem Flugzeug unterwegs. Wie das war und was sie im estnischen Sänna erlebt hat, berichtet sie hier:
"Da stand ich nun am Frankfurter Flughafen und hatte keine Ahnung, was ich als Nächstes tun musste. Eine nette Frau, der ich erklärt hatte, dass ich zum ersten Mal alleine flog, führte mich daraufhin zur Gepäckabgabe. Nachdem ich schließlich den Check-In Schalter passiert hatte, war erst einmal langes Warten angesagt. Natürlich war ich aus lauter Angst, ich könnte etwas falsch machen und am Ende mein Flugzeug verpassen, viel zu früh am Flughafen.
Das erste Mal alleine reisen
Vor meinem Workcamp in Estland war ich ziemlich aufgeregt. Es war das erste Mal Reisen auf eigene Faust für mich. In Estland kam ich schon einen Tag vor Campbeginn an. Das allerdings war an sich keine schlechte Idee, so hat man weniger Stress und kann sich im Land schon etwas umschauen. Meine Partnerorganisation aus Estland hatte mir im Vorfeld angeboten, ein Hostel für mich zu buchen. Das werde ich in Zukunft allerdings doch eher selber machen, schließlich gibt es eine Menge Hostel-Rating-Seiten im Internet, über die man sich gut informieren kann. Meines war nämlich nicht so der Hammer.
Der Weg zum Workcamp
Kurz vor Abfahrt am nächsten Tag sprach mich an der Bushaltestelle eine Betreuerin der estnischen Partnerorganisation an und brachte mich mit dem ersten Campmitglied zusammen: Einer jungen, etwas schüchternen Koreanerin. Als wir nach vierstündiger Fahrt (von Tallinn im hohen Norden bis ganz in den Süden Estlands) den Bus wechselten, trafen wir auf zwei weitere Teilnehmer: Einen Jungen aus Frankreich und ein Mädchen aus Québec, Kanada. Und in Sänna schließlich lernten wir den Rest kennen: Unsere Leiterin aus Lettland, einen EVSler aus Deutschland (er war für ein Jahr dort) und an den darauffolgenden Tagen noch ein Mädchen aus Polen, einen Jungen aus China und einen weiteren – eigentlich müsste man bei 30 Jahren ja schon „Mann“ sagen, er aber war das größte Kind von uns allen – aus London, England. Eine ziemlich bunte Gruppe also. Bis auf unseren Engländer war es für uns alle das erste Workcamp und alle waren etwa 19 bis 25 Jahre alt.
Unsere Unterkunft in Sänna
Die ganze Gruppe war untergebracht in dem Gemeindehaus von Sänna (Sänna Kultuurimois), wir hatten Doppel- bzw. Dreifachstockbetten in geschlechtlich getrennten Zimmern. Im ganzen Haus wurde sehr auf Sauberkeit geachtet, außerdem waren die Räumlichkeiten erst kürzlich renoviert worden und zwar von einer Familie mit 2 kleinen Kindern, die sich vor 2 Jahren dem wohl ziemlich verwahrlosten Gemeindehaus angenommen hatte und dort nun in einem abgetrennten Teil wohnt. Ich hatte es mir bei weitem nicht so schön vorgestellt.
Der "Solar Hiking Trail"
So. Was haben wir da eigentlich gemacht? Unser Gastvater hatte beim Einzug in das Haus die Idee, ein Sonnensystem maßstabsgetreu als Rad- und Wanderweg nachzubilden (dieses Vorhaben kam in der Beschreibung nicht so klar heraus, hier war die Rede von einem „solar hiking trail“ – wir hatten uns alle gewundert, was genau wohl dahinter stecken würde...). Dieser sollte Sänna attraktiver für Touristen wie auch Ortsansässige machen und neue Einwohner in das 80-Seelen Dorf bringen. Dazu musste viel Gebüsch geschnitten werden, denn die Sicht auf den Hügel, auf dem die „Sonne“ zwischen den Bäumen hängen sollte, einen kleinen Fluss, der am Haus vorbeifließt, und einen Holzpavillon, der auf dem Weg als Rast dienen sollte, sollte verbessert werden. Außerdem halfen wir beim Aufstellen von Schildern und Tafeln, strichen Holzbalken mit Schutzfarbe, bauten eine Außendusche neben die schon vorhandenen Außentoiletten und Gewächshäuser (mmh, jeden Tag frisches Gemüse im Essen!) und halfen bei den Vorbereitungen auf das große Öko-Treffen, das an den letzten beiden Tagen des Camps stattfand und während welchem neben vielen anderen Veranstaltungen das Sonnensystem eingeweiht werden sollte.
Rauch-Sauna und Whirlpool
Wir arbeiteten ca. 7 Stunden am Tag, ich fand das durchaus noch angenehm, vor allem, weil man abends dann so unglaublich gut schlafen konnte... In unserer Freizeit gab es auch immer etwas zu tun: Wir bastelten unsere Tagebücher selbst, badeten im Fluss und dem kleinen See gleich nebenan, durften die Rauch-Sauna und den heißen Whirlpool ausprobieren, machten eine Radtour und einen Wochenendtrip in die Universitätsstadt Tartu. Fast jeden Abend spielten wir etwas zusammen, das Gruppengefühl war einfach unschlagbar, obwohl (oder vielleicht gerade weil?) wir so viele unterschiedliche Charaktere aus allen Teilen der Welt dabei hatten.
Die Reise zurück
Zwei der Teilnehmer mussten schon etwas früher wieder aufbrechen, der Rest fuhr an diesem Tag zurück nach Tallinn, von wo aus Fähren und Flugzeuge uns nach und nach wieder heim brachten. Ich war die letzte, die schließlich ihren Flieger bestieg. Eins steht fest: Ich werde es wieder tun! Es war eine unschlagbare Erfahrung an solch einem interkulturellen Workcamp teilzunehmen. Ich denke, dass ich mich in diesen 2 Wochen wirklich weiterentwickelt habe. Als ich nach Campende zum zweiten Mal allein in Tallinn war, hatte ich keine Angst mehr. Und war auch nicht mehr viel zu früh am Flughafen.
Und zum Schluss noch ein paar gut gemeinte Ratschläge:
- Bleibt nach dem offiziellen Campende noch ein paar Tage länger! Meistens ergibt sich noch ein Ausflug mit Teilen der Gruppe, das habe ich auch in anderen Berichten gelesen
- Wenn ihr nicht absoluter Fan von Stechmücken seid, dann kommt erst ab Mitte August nach Estland. Wir hatten zwar immer noch einige, aber unser Gastvater meinte, das seien nur noch ein paar übrig gebliebene... am besten erkundigen, wann die Saison anfängt, das Frühjahr ist nämlich auch noch mückenfrei. Für alle Fälle: Mückenspray!!
- Schreibt Tagebuch! Das gibt tolle Erinnerungen!
- Überlegt euch wirklich, was ihr mitnehmen MÜSST. Der Rest bleibt daheim. Der macht euch beim vielen Rumreisen nur unglücklich. Waschpaste, um Wäsche auch mal mit der Hand zu waschen, ist keine schlechte Idee, denn es gibt nicht immer Waschmaschinen.
- Estland ist sehr günstig. Ein Essen, von dem man satt wird, mit Getränk gibt’s für ca. 6€. Klarer Pluspunkt :)
- Estnisch ist eine lustige Sprache. Zeigt Interesse daran, dann lernt ihr auch ganz schnell ein paar Wörter (Tere! – Hallo!, Aitäh – Danke, Palun – Bitte, Vabandust – Entschuldigung), das beeindruckt immer!
Traut euch und habt ganz viel Spaß, vor allem Estland kann ich weiterempfehlen, davon könnt ihr in einem zweiwöchigen Camp auch schon das Meiste vom Land sehen!"
Ricarda (20, Teilnehmerin)