11. Februar 2022

Volunteering mit INEX in Tschechien – A European Solidarity Corps experience

Zwischen Workcamps, tschechischer Sprache und veganer Pizza : Jule, unsere ESK-Freiwillige 2021, zieht nach zwölf Monaten in Tschechien das Resümee ihres Freiwilligenjahres bei unserer Partnerorganisation INEX-SDA:

"Es war 19:40 Uhr am Mittwoch, den 3. Februar 2021, als ich mit meinen schweren Koffern und Rucksäcken wie ein Esel bepackt am Prager Hauptbahnhof ankam. Meine Mentorin erwartete mich am Bahnsteig, um mich in Prag willkommen zu heißen und mich zu der Wohnung zu führen, in der ich während meines ESK-Projekts wohnen würde. Ich war voller Erwartungen, Neugierde und Erleichterung, zusammen mit IBG in Zeiten der Pandemie eine Chance gefunden  zu haben, ins Ausland zu gehen. Wenn ich jetzt auf diesen Moment zurückblicke, wird mir klar, wie viel mich dieses Jahr in Prag mit INEX gelehrt hat.

Bevor wir jedoch tiefer in diese Erinnerungen eintauchen, klären wir doch kurz, was das ESK überhaupt ist, damit wir auf demselben Stand sind und ihr wisst, worüber ich rede:

Was ist der ESK?

ESK steht für Europäisches Solidaritätskorps. Dieses bietet eine große Anzahl verschiedener kurz- und langfristiger Freiwilligeneinsätze mit einer Dauer von bis zu zwölf Monaten für europäische Bürger:innen zwischen 18 und 30 Jahren, wie mich.

Mein ESK-Projekt bei INEX

INEX bot ein solches einjähriges Freiwilligen-Projekt als "Incoming Officer" an. Da ich bereits einige Workcamps in Deutschland und Japan durchgeführt und geleitet hatte, mir der Ansatz der  non-formalen Bildung in einem interkulturellen Umfeld gefiel und ich daran interessiert war, mehr Einblicke in den gesamten Workcamp-Zyklus und die Koordination zu bekommen, war ich total begeistert.

Für mich stellte  das die perfekte Gelegenheit dar, erstens ins Ausland zu gehen, zweitens mehr praktische Arbeitserfahrung zu sammeln und drittens bei einer bekannten Workcamp-Organisation zu arbeiten.

Als Incoming Officer muss man sich im Allgemeinen um alle Bewerbungen von Freiwilligen für die Workcamps kümmern, die in dem Land der jeweiligen Organisation koordiniert werden. Das bedeutet administrative und praktische Unterstützung während des Workcamp-Zyklus: bei der Vorbereitung der Workcamps und Trainings (die "Aufwärmphase"), während der Zeit, in der sie tatsächlich stattfinden (die "heiße Phase") und bei den Abläufen nach ihrem Ende (die " Abkühlungsphase"). Das bedeutet intensive Kommunikation mit anderen Organisationen, Freiwilligen, Campleitungen und Kolleg:innen, Reisen zu ländlichen Workcamp-Orten im ganzen Land und jede Menge Papierkram - kurz gesagt, eine ziemliche koordinative Herausforderung, während man viele Projekte, Gemeinden, Organisationen, Orte und Menschen in Tschechien kennenlernt.

Das war genau das, was ich mir vorgestellt hatte. Es klang buchstäblich wie mein Traum. Aber hat es sich so entwickelt, wie ich es erwartet hatte? Nun, irgendwie schon. So weit wie die Vorstellung in meinem Kopf mit der Realität übereinstimmen kann, würde ich sagen. Aber es hat mir auf jeden Fall viel mehr gegeben, als ich erwartet hatte. Zum Beispiel neue gute Freund:innen, wie meine Mentorin, die mich am Tag meiner Ankunft vom Prager Hauptbahnhof abgeholt hatte. Es hat mir aber auch ziemlich harte und raue Zeiten beschert.

Wenn ihr euch dafür interessiert, wie es mir als ESK-Freiwillige ergangen ist oder ihr selbst ein ESK-Projekt anstrebt, könnt ihr mir hier in einem kleinen Rückblick folgen.

Natürlich können die Erfahrungen mit ESK-Projekten sehr unterschiedlich sein. Es hängt von vielen Faktoren ab, wie z.B. von der Gastorganisation, der Arbeit, den Aufgaben und dem Arbeitsumfeld, dem Ort des Projekts, von den Menschen, die man trifft, und vielleicht am wichtigsten, von einem selbst, wie man mit Veränderungen, Herausforderungen und Konflikten umgeht. Und ja , davon gibt es normalerweise ziemlich viele. Ich möchte an dieser Stelle ein realistisches Bild von meinen ESK-Erfahrungen zeichnen. Zufriedenheit mit meinen Entscheidungen, meiner Arbeit und Beziehungen gehört natürlich genauso dazu wie Konflikte, Stress, Einsamkeit und Ängste.

Wie war es, bei und mit INEX-SDA zu arbeiten?

Den gesamten Workcamp-Zyklus von der Seite der Organisation aus kennenzulernen war ebenso bereichernd wie anstrengend, und ich bin froh, dass ich ihn mit vielen neuen Fähigkeiten beendet habe, sowohl was Professionalität, Kommunikation, als auch Selbstmanagement betrifft.. Mein Projekt ermöglichte mir, mit vielen verschiedenen Organisationen und auch Freiwilligen aus ganz Europa und manchmal darüber hinaus zu sprechen, so dass mir klar wurde, wie gut wir grenzüberschreitend miteinander verbunden sein können.

Neben meinen Aufgaben als Incoming Officer gab mir INEX verschiedene Möglichkeiten, mich in anderen Nebenprojekten zu engagieren. So konnte ich zum Beispiel die Redaktion des Podcasts DOBRO.cast unterstützen (ein anderer ESC-Freiwilliger und ich haben dafür auch zwei englische Episoden aufgenommen), ich habe bei Trainings geholfen und gekocht und sogar als Campleitung an Workcamps teilgenommen und durch Instagram-Handovers mehr Social-Media-Erfahrung gesammelt. Ihr könnt mehr über die Geschichten anderer Campleitungen und meine Geschichten in einigen INEX-Artikeln wie diesem lesen.

Das wohl wichtigste und auch härteste, was ich während meiner ESK-Zeit bei INEX gelernt habe, ergibt sich aus der großen Vielfalt an tollen Aufgaben: die Fähigkeit, Prioritäten zu setzen und zu reduzieren, die Bedeutung einer stetigen Kommunikation und die Fähigkeit, Nein zu sagen. Außerdem habe ich in dieser Zeit gelernt, wie wichtig mir eine wertschätzende und nicht-hierarchische Arbeitsatmosphäre ist.

Almost the whole INEX team enjoying our vegan team dinner

Vielen Dank an dieser Stelle an meine Kolleg:innen und meine Koordinatorin,  dass sie mich aus meinen Fehlern und Erfahrungen haben lernen lassen; dass wir so oft Spaß bei der Arbeit hatten; und auch für die vielen Lacher und verrückten Ideen. Das INEX-Team hatte immer ein offenes Ohr, gab mir Tipps von der Bewältigung von hunderten von E-Mails am Tag über schöne Wanderrouten bis hin zu kreativen Rezepten, Restaurants oder Gelegenheiten  zum Dumpster-Diving. Ich habe ihre Gesellschaft jeder Zeit genossen und bin sehr dankbar, dass sie mich immer unterstützt haben und so geduldig mit mir waren.

Und neben der Arbeit?

Natürlich bedeutet ein Freiwilligenjahr im Ausland nicht nur Arbeit. Es geht auch darum, in einem anderen Land zu leben und sich für andere lokale  Gewohnheiten,Traditionen, Sprachen und Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen  zu sensibilisieren.

Vor Projektbeginn  war ich mir schon bewusst, dass ein Umzug ins Ausland überwältigend sein kann . Ich erinnere mich, dass ich anfangs sogar nervös war, wenn ich mit Kassierer:innen im Supermarkt auf Tschechisch sprechen wollte, weil ich ihre Antworten einfach nicht verstanden habe. Einige Monate später fühlte ich mich besser , wenn ich solche Gespräche auch mit Freund:innen und Kolleg:innen führte  Doch  in allein tschechischsprachiger Umgebung, fühlte ich mich weiterhin unwohl. Es war einfach schwer für mich einzuschätzen, was ich auf Tschechisch sagen konnte und wollte, und manchmal können Muttersprachler:innen einfach nicht erkennen, wenn sich normale Situationen und Gespräche für mich als Sprachlernende als ziemlich stressig und herausfordernd herausstellen .

Jetzt, ein Jahr später, sieht es ein bisschen anders aus und ich fühle mich um einiges  sicherer. Einerseits, weil ich mich immer wieder mit diesen Situationen konfrontiert habe, viel lernte und mich mit Menschen unterhielt; andererseits aber auch, weil ich gelernt habe, es zu genießen, mich manchmal wie ein Fisch auf dem Trockenen zu fühlen, diesen Sprachprozess zu schätzen , diese interessanten und lustigen kommunikativen Momente mit Fremden, die fast immer bereit waren, mich zu unterstützen. Das bedeutet nicht unbedingt, dass ich das nächste Mal NICHT weinen werde, wenn ich frustrierende Gespräche auf Tschechisch voller Missverständnisse mit Bürokrat:innen am Telefon führen werde  - doch  es bedeutet, dass ich daraus lernen kann, meine Reaktionen viel besser verstehe, selbstbewusst weinen kann und auch weiß, welche Situationen ich alleine bewältigen kann und für welche ich um Hilfe bitten möchte.

Und das gilt auch für viele andere Situationen.

Zum Beispiel hatte ich keine engen Freund:innen und meine  Familie mehr nah um mich herum, die ich sonst so leicht erreichen konnte. Auch wenn ich gerne Zeit mit mir selbst verbringe und viel Wert darauf lege, Orte allein zu erkunden, gab es doch einige Situationen, in denen ich die Gesellschaft langjähriger Freund:innen im wirklichen Leben hätte gebrauchen können oder die ich gerne mit ihnen geteilt hätte. Vor allem im sechsten Monat meines Aufenthalts in Tschechien hatte ich das Gefühl, den Kontakt zu anderen Menschen zu verlieren. Meine besten Freund:innen waren nicht da, und manchmal war ich mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt "richtige" Freund:innen in Prag hatte oder ob es sich nicht nur um kurzfristige “Zweckfreundschaften” handelte . Aber das gehört zu den Erfahrungen, die man macht, wenn man ins Ausland zieht und dort lebt, und natürlich wollte ich geduldig mit mir selbst und den neuen Beziehungen sein, die sich gerade erst entwickeln sollten. Also habe ich Wege gefunden, mit mehr Dingen allein fertig zu werden, ich und meine alten Freund:innen haben zusammen neue Kommunikationswege entdeckt , und ich habe mich mehr bemüht, mit Freund:innen vor Ort  häufiger in Kontakt zu treten, um zu sehen, was sich daraus entwickeln würde. Und was soll ich sagen, es haben sich  erstaunliche Dinge entwickelt und sie tun es immer noch, ähnlich wie meine Sprachkenntnisse .

Ebenfalls essentiell war es für mich, Orte und Plätze in Prag und Umgebung  so zu entdecken, dass eine Verbindung zwischen mir und diesen Orten entstand, und auch Prag als Stadt mit ihren Bewohner:innen kennen zu lernen. Ich erinnere mich, dass ich in den ersten Wochen täglich stundenlang in und um Prag zu Fuß umher wanderte, um mich zu orientieren und mich in Zukunft sicherer bewegen zu können. Gut, das lag auch an den COVID-Maßnahmen denn draußen spazieren zu gehen  war eine der wenigen Aktivitäten, die überhaupt erlaubt waren  :D Aber der Punkt ist: ich kann jetzt definitiv sagen, dass ich mich in Prag zurechtfinde, nachdem ich mich viele Male verlaufen oder die Straßenbahn in die falsche Richtung genommen habe.

Es erfordert viel Mühe und Geduld,einen neuen Ort kennenzulernen und sich in einer neuen Umgebung zuhause  zu fühlen. Man muss seinen eigenen Weg finden, um sich gut zu fühlen, sich selbst besser kennen zu lernen und sich selbst und andere herauszufordern, aber dieser Weg ist ein Abenteuer, und wenn man das gemeistert hat, kann man wirklich stolz auf sich sein.

Ein paar persönliche Highlights aus Tschechien 

Wenn ich an das letzte Jahr in Tschechien denke, kommen mir vor allem kleine Momente in den Sinn. Die meisten von ihnen sind tatsächlich von den unglaublich schönen tschechischen Landschaften inspiriert: das erste Mal, als ich von einem Aussichtspunkt in Braník auf Prag und die Moldau geblickt habe ; das erste Mal, als ich in einem Wald im Naturschutzgebiet Toulovcovy Maštale Unmengen von Sand begegnet bin, der aus dem Sandstein der atemberaubenden Felsformationen stammt; das Eisbaden in einem zugefrorenen See während eines  Sonnenuntergangs im Riesengebirge (der tschechische Ausdruck "otužování" bedeutet wörtlich übersetzt "Ab- oder Aushärtung" von Körper und Geist); eine Höhlenwanderung in Südmähren ; eine Wanderung in der mährischen Weinregion Znojmo in Begleitung von guten Freundinnen und Burčák (das tschechische Equivalent eines Federweißers oder Federroters); oder im Grunde  die Aussicht von fast jedem Aussichtspunkt in Tschechien  (und davon gibt es unzählige, die tschechische Landschaft ist recht hügelig).


Otužování in Rokytnice

Das Leben in Prag war natürlich auch ein Highlight für sich.

Nachdem ich die Hauptstadt ein Jahr lang erkunden konnte , beeindruckt mich ihre Schönheit weiterhin, wenn ich durch die Gassen gehe und immer wieder auf ein weiteres historisch wertvolles Gebäude oder Denkmal oder ein interessantes Stück sozialkritischer Kunst stoße oder auf multifunktionale Räume, Kinos, Restaurants, Cafés oder Bars die sich in unscheinbaren Ecken verstecken, (und diese Liste könnte ich ewig weiterführen).

Ein paar Zeilen möchte ich auch der großen Vielfalt an veganen Restaurants und der veganen Auswahl  in Prag widmen. Ich kann es nur empfehlen, einige vegane Varianten von  traditionellen tschechischen Gerichten zu probieren, wie z. B. vegane Svíčková (traditionell marinierte Lende in Sahnesoße) oder veganer Smažák (gebratener Käse, der normalerweise mit Pommes und Remoulade serviert wird). Ich habe mittlerweile auch mein Stammrestaurant: ein  veganes Pizza- und Burger-Restaurant, in dem ich mich das Jahr über durch die gesamte Speisekarte probiert habe 

Neben der Vielzahl an veganen Küchen,  hat mich außerdem die hohe Anzahl an Haushunden und -katzen überrascht  - in fast jedem tschechischen Haushalt, in den ich eingeladen wurde, gab es mindestens einen Hund oder eine Katze, die ich streicheln konnte.

Yummy vegan Svíčková


Ocean of candles on Narodní Třida in Prague on the Day of Struggle for Freedom and Democracy (Den boje za svobodu a demokracii) 17.11.21

Um es zusammenzufassen:

Ich habe nicht nur eine Menge über die Tschechische Republik, INEX als NGO, die internationalen Workcamp-Netzwerke, ihre Werte, Workcamps und Trainings gelernt, sondern auch unzählige Verbindungen zu Orten, Freund:innen und Bekannten sowie viele Möglichkeiten, Inspirationen und Ideen für die Zukunft gewonnen.

Es mag leicht kitschig klingen, aber hier habe ich gelernt, mein Leben und mich selbst auf eine neue Weise zu schätzen. Ich fühle mich hier so wohl und zuhause , dass ich mich sogar entschlossen habe, den vorübergehenden einjährigen Aufenthalt in einen dauerhaften Aufenthalt umzuwandeln und hier zu bleiben. Man kann also sagen, dass das ESK-Programm erfolgreich war und seine Ziele für mich sogar übertroffen hat. Ich habe  mit einer Vision angefangen und mit der Erkenntnis geendet, dass sich diese Vision auf eine viel bessere Art und Weise verwirklicht hat , als ich erwartet hatte.

Ich bin gekommen, um eine Zukunftsperspektive in einem anderen europäischen Land zu eröffnen und meine beruflichen Fähigkeiten weiterzuentwickeln - und jetzt am Ende stehe ich hier sogar mit einem Job und einer Menge Projektideen. Ich bin gekommen, um andere kennen zu lernen - und habe  ein wertvolles Netzwerk an  Freund:innen und Kolleg:innen dazugewonnen, das ich gerne weiter ausbauen und entwickeln möchte .

Ich bin  am Mittwoch, dem 3. Februar 2021, um 19:40 Uhr am Prager Hauptbahnhof angekommen, bepackt wie ein Esel mit meinen schweren Koffern und Rucksäcken, voller Erwartungen und Neugier. Wenn ich jetzt zurückblicke, wird mir klar, dass ich in erster Linie gekommen bin, um zu bleiben.

Ich hoffe, euch  einen Überblick über mein ESK-Projekt gegeben zu haben und was man daraus mitnehmen kann. Wenn ihr euch inspirieren lassen und eure eigene ESK-Reise beginnen möchtet, dann schaut doch selbst einmal auf dem ESK-Portal vorbei.

Hier findet ihr auch Berichte von anderen IBG-Freiwilligen, die an Workcamps in Tschechien und anderen Ländern teilgenommen haben."